Literatur und konkrete Poesie - Peer Gessing

Briefe aus dem Jahr 4000: vorwärts und rückwärts“ wurde erstmals im Januar 2017 veröffentlicht und lässt die bis dahin geschilderte Zeit ab der Buchmitte wieder rückwärts laufen. Als Stilmittel ergibt sich dadurch eine Rhythmisierung des Textes, der auch als Theateraufführung fungieren könnte. 100 Briefe eines beobachtenden Ichs, dessen Wahrnehmungen kontingent sind. Denn in der Mitte des Romans werden diese Beobachtungen Satz für Satz von hinten nach vorne notiert – und sie sind genauso wahr oder eben auch nicht wahr wie die anderen. Vorwärts und rückwärts ist die Bewegung, die der Mensch tausendfach erlebt hat, auch metaphorisch. Dass sich die Welt dabei weiterdreht, stört diese Bewegung nicht, denn ein Sprachexperiment ist losgelöst von Zeit und Raum. Und deswegen spielt es auch keine Rolle, ob es Briefe aus dem Jahr 4000, 2000, 1990 oder 1960 sind. Doch dann blitzt die Utopie hervor, die sich in ihrer fiktiven Gesellschaftsordnung nicht an zeitgenössische historisch-kulturelle Rahmenbedingungen gebunden fühlt: „Man hat die Schienen umgedreht, um den Erfordernissen zu genügen. Unter ihnen Gräben gezogen, Stützen gebaut, die Seitenwände stabilisiert. Die Fahrgäste sind nicht angeschnallt, weil die Erde in den Machtbereich eines riesigen Planeten eingedrungen ist. […] Jetzt suchen alle nach Konzepten, wie man die Gravitationskräfte umkehren könnte.“ (4388)

Briefe aus dem Jahr 3000“ wurde erstmals im April 2017 veröffentlicht. Der Roman versteht sich als Fortsetzung der „Briefe aus dem Jahr 4000“. Hier sind 100 Briefe eines Ichs über das Leben, das Lieben, das Schicksal und das Alltägliche gereiht, die dann im Akt der Dekonstruktion rückwärts laufend auf einen zentralen Satz hin verkürzt werden und damit die Zerbrechlichkeit dieses Gedankenexperiments und vielleicht auch unseres Lebens zeigen. Der „Atlas des Lebens“ vereint eine Sammlung thematisch und inhaltlich zusammenhängender Briefe, bei denen sich der Leser weniger auf die Herausforderungen, die die Lektüre utopischer Literatur verlangt, einstellen muss, als vielmehr auf ein Experiment der Kreativität.

Perfection for you“, ein zweisprachiger Band, wurde ebenfalls im April 2017 veröffentlicht und stellt ein Konzept maximaler Reduktion vor. Es ist ein Skizzenbuch für den Leser, der nun selbst zum Autor wird. Damit ruft Peer Gessing seine Leser und Rezipienten auf, als heutige Generation aktiv an der kreativen Weiterentwicklung der Welt mitzuwirken. Die Paten für dieses Buch sind u.a. [[Reinhard Döhl]], Autor und Künstler, der Gessing während seiner Stuttgarter Universitätszeit als Mentor unterstützte sowie [[Pythagoras]] und [[Ad Reinhardt]]. Gedichte, Stichwortzettel, Befehle kommen ohne Verben aus. Gefühle können eigentlich nie ohne Verben ausgedrückt werden. Beschreibungen ohne Adjektive entbehren der Anschauung. Rezepte ohne Zahlen sind hübsch zu lesen, verfehlen aber ihre Funktion wie ein Atlas ohne Karten. Oder aber sie zeigen die Offenheit eines Experiments, das den Leser nicht nur zum Rezipienten macht, sondern auch zum Autor und Interpreten. Ein Buch nun mit 100 Zahlen, das vorgibt eine Sammlung zu sein, wird es erst in dem Moment, wenn der Leser zum Autor wird. Spannend wird es, wenn der Leser, zum Autor geworden, als impliziter Autor schreibt und die Erwartungserwartungen eines anderen impliziten Lesers und Autors meint erfüllen zu müssen. Die Folgen und Stufen der Gedanken enden dann vielleicht in einer Übereinkunft, einer Synthese, der Spitze der Pyramide, bei der die Addition von vier Ziffer (1 + 2 + 3 + 4) ein Dreieck ergibt und alle Paradoxie vereint und gelöst erscheint.

120 Spiegelgedichte hat Peer Gessing online publiziert. Als Königsdisziplin der Poesie besteht die Spezialität der Spiegelgedichte (s. auch [[Palindrom]]) nicht nur in der spielerischen Möglichkeit, diese vom Anfang wie vom Ende lesen zu können. Die strenge Vorgabe der Symmetrie mündet schnell in sprachinternen Hindernissen und erfordert eine besondere sprachliche Sensibilität beim Autor.

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